Im Oktober 2019 hielt Angela von Arnim bei den Süddeutschen Psychotherapietagen den Vortrag „Der Körper und die Geschichte der Organismus Umwelt Beziehung: Die „Wunderknäuel“ – Metapher“.
Im Vortrag werden Kranksein und Gesundwerden im Kontext ihrer Entstehung in der frühesten Umwelt des Menschen am bildlichen Modell des Wunderknäuels und anhand neuer Forschungsergebnisse, z.B. zu Entwicklungstraumatisierungen und darauf bezogenen Behandlungsansätzen, ent-wickelt und veranschaulicht.
In dieser Version des Vortrages werden die Vortragsfolien mit Ausschnitten aus einer Tonspur unterlegt, die auf der Tagung entstand und Angela von Arnims Vortrag aufnahm.
Angela von Arnim
Das Wunderknäuel: Zur Entstehungsgeschichte der Organismus-Umwelt-Beziehung
Heute ist der Körper in der Gesellschaft – und gerade auch in aktuellen Publikationen aus dem Bereich der Psychotherapie – in aller Munde.
Als 1994 die erste Auflage der Publikation Subjektive Anatomie, herausgegeben von Thure v. Uexküll, Marianne Fuchs, Rolf Johnen und Hans Müller-Braunschweig, bei Schattauer erschien, war sie jedoch damals ihrer Zeit „um Welten voraus“. Noch heute wird das Buch als eine Art Pionierwerk für die Bedeutung des Körpers in Bezug auf Heilungsprozesse in der Psychotherapie, gesehen.
Das Buch entstand durch einen siebenjährigen Gruppenprozess einer Gruppe von 13 Psychosomatiker*innen und Körperpsychotherapeut*innen, überwiegend Therapeut*innen der Funktionelle Entspannung als einer wahrnehmungsorientierten Körperpsychotherapiemethode. In Selbstwahrnehmungsexperimenten der Gruppe sollte das Erlebte verbalisiert und die „Körperzeichen“ gemeinsam verstanden werden.
Zu den theoretischen Modellen, die geholfen haben zu erhellen, inwiefern der Zugang zum Körpererleben, zu unserer eigenen „Subjektiven Anatomie“ , heilen kann, gehörten – neben der Gestaltkreislehre Viktor von Weizsäckers und den Publikationen der Funktionellen Entspannung, besonders die Monographie von Marianne Fuchs – die Umweltlehre von Uexkülls, die Systemtheorie, die Theorie der autopoetischen Systeme, der Konstruktivismus, die psychoanalytische Entwicklungspsychologie, die empirische Säuglings- und Bindungsforschung und die Zeichenlehre als Teil der Kommunikationstheorie (Semiotik).
Mit einem bildlichen Modell habe ich damals die Entstehungsgeschichte der Organismus-Umwelt-Beziehung veranschaulicht:
Der Mensch entwickelt sich eigentlich nicht als Ent-Wicklung, sondern als Ver-Wicklung, d.h. vom Einfachen zum Komplexen. Der Mensch als biopsychosoziales Wesen entsteht als individuelle Person in immer neuen „Ver-wicklungen“ mit der frühen Umwelt – Überraschungen inklusive! Also als eine Art „Wunderknäuel“. Ein Wunderknäuel gab es zur Zeit meiner Urgroßmutter, die mir als Kind erzählte, als ich dabei war, Stricken zu lernen, dass sie als Kind ein Wollknäuel geschenkt bekommen hatte, in das kleine Geschenke eingewickelt gewesen waren, und ganz innen im Knäuel habe es noch ein größeres Geschenk gegeben. Dieses besondere Knäuel sollte zum Stricken lernen motivieren.
Warum ist der Mensch nun mit einem Wunderknäuel zu vergleichen?
Wenn der Organismus als ein lebendes System zu verstehen ist, dann erscheint das Neue im Sprung, als Überraschung, als Emergenz. Der Kern ist ein »größeres Geschenk«: die Lebendigkeit bereits jeder Zelle und deren Fähigkeit zu Autonomie und Beziehung, zu Wahrnehmung und Bewegung, zu Bedeutungserteilung und -verwertung, zu Merken und Wirken. Und in jeder neuen „Wicklung“, d. h. jeder neuen Lebenserfahrung oder Kompetenz, jeder neuen Stufe des Selbst, sind die Erfahrungen mit der Umwelt immer mit „eingewickelt“.
Im Therapieprozess kommunizieren dann sozusagen zwei Wunderknäuel, d.h. es geht zwischen Patient*in und Ärzt*in bzw. Therapeut*in ständig hin und her, auf allen Systemebenen, sowohl innerhalb des Wunderknäuels Patient*in und des Wunderknäuels Therapeut*in, als auch zwischen beiden, und sowohl auf der Ebene des unbewussten leiblich-affektiven Resonanzgeschehens – der sog. „Zwischenleiblichkeit“ – als auch auf der Ebene der Verbalisierung. Heilung wird demnach als eine Art rhythmischer Prozess verstanden, mit überraschenden Ent-wicklungen und transformierenden Neu-wicklungen.
Die Publikation „Subjektive Anatomie“ ist im Frühjahr 2022 bei Klett-Cotta neu bearbeitet erschienen. Diesmal herausgegeben von Angela von Arnim, Rolf Johnen und Claas Lahmann. In der aktualisierten Neuausgabe können Details zur Thematik, versehen mit aktuellen Kommentaren aus Sicht des heutigen Diskussions- und Forschungsstandes, nachgelesen werden.
Herzlichen Dank an das Auditorium Netzwerk für die Genehmigung zur Bearbeitung. Dort ist der Vortrag als DVD erhältlich.
